2.

 

Sieh nur, wie in der Kugel sich Nebel verdichtet
 Während draußen ein Rätsel fast alles vernichtet.

 

Kate sog tief die Mischung der Düfte von Zimt und Zedern in sich ein, als sie in die Küche des Hauses auf der Klippe schlenderte. Die Klänge weihnachtlicher Musik erfüllten die Luft und vermischten sich mit dem Aroma von frisch gebackenen Plätzchen und dem Duft stark parfümierter Kerzen. »Ist das Joleys Stimme?«, fragte Kate, als sie sich mit der Hüfte behaglich an die Vitrine mit den üppigen Holzschnitzereien lehnte. »Wann hat sie denn eine Sammlung von Weihnachtsliedern aufgenommen?«

Hannah Drake wirbelte mit dem Teekessel in den Händen auf dem Absatz herum. Ihre üppige blonde Mähne schimmerte einen Moment lang in den letzten Sonnenstrahlen des Tages, die durch das Erkerfenster hereinfielen. »Kate, ich habe dich gar nicht aus der Dusche kommen hören. Ich glaube, ich war in meiner eigenen kleinen Welt. Joley hat die CD als eine Überraschung für uns geschickt, aber sie hat ausdrücklich dazugesagt, sie sei für niemanden außerhalb der Familie bestimmt.«

Beide lachten liebevoll. »Joley und ihre unmögliche Band! Sie kann so ziemlich alles singen, von Gospel über Blues bis hin zu Rock und Rap, aber sie achtet sorgsam darauf, dass es niemand erfährt. Ich glaube, sie mag ihr Image als ungezogenes Mädchen. Hat sie erwähnt, ob sie über Weihnachten nach Hause kommt? Ich weiß, dass sie auf Tournee war.«

Hannahs Miene hellte sich auf und sie lächelte strahlend.

»Sie wird es versuchen. Ich kann es kaum erwarten, sie zu sehen. Durch unsere Reisen verfehlen wir einander ständig.«

»Ich hoffe, sie kommt bald hierher. Am Telefon mit ihr zu reden ist eben doch nicht dasselbe. Es ist viel schöner, wenn wir alle zusammen sind.« Kate strich sich eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr. »Was ist mit Mom und Dad? Hat jemand etwas von ihnen gehört? Kommen sie über Weihnachten nach Hause?«

Hannah schüttelte den Kopf. »Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass sie uns Küsse und Umarmungen schicken. Sie genießen es gerade sehr, in ihrem kleinen Chalet in den Schweizer Alpen zu sein. Libby war kurz bei ihnen zu Besuch, bevor sie in den Kongo aufgebrochen ist. Sie hat gesagt, sie käme über Weihnachten nach Hause. Mom und Dad haben versprochen, nächstes Jahr würden sie Weihnachten gemeinsam mit uns hier verbringen.«

Kate lachte leise, als sie sich vorbeugte, um an der Dose mit dem losen Tee zu schnuppern. »Mom und Dad sind immer noch solche Turteltäubchen. Welchen Tee kochst du gerade?«

»Mir war nach Lavendel, aber alles andere ist mir auch recht.« Hannah musterte Kate eingehend. »Lass uns lieber Kamillentee überbrühen. Zur Beruhigung.«

Kate lächelte. »Du meinst also, ich könnte einen Beruhigungstrunk gebrauchen?«

Hannah nickte, während sie den Tee in eine kleine Kanne abmaß. »Erzähl mir, was passiert ist.«

»Ich bin Matthew Granite und seinem Bruder Danny begegnet.« Kate bemühte sich, es beiläufig klingen zu lassen, obwohl sie von Kopf bis Fuß zitterte. Nur Matt konnte sie derart aus der Fassung bringen. Sie hatte nie verstanden, warum.

»Matthew Granite? Ich dachte mir schon, dass er es sein könnte.« Hannah’s enorme blaue Augen hefteten sich voller Mitgefühl und Interesse auf ihre Schwester. »Was für einen Eindruck hat er auf dich gemacht?«

Kate zog ihre schmalen Schultern hoch und ließ sie wieder sinken. »Wunderbar. Hilfsbereit. Er hat mir angeboten, sich die alte Mühle genauer anzusehen und mir bei den Renovierungsarbeiten zu helfen.« Sie kostete es immer wieder genüsslich aus, ihre jüngere Schwester anzusehen. Hannah war nicht nur schön. Sie war eine umwerfende Erscheinung und wirkte unglaublich exotisch mit ihrem langgliedrigen Knochenbau, der üppigen hellen Mähne, die schon fast platinblond war, den riesengroßen Augen unter dichten Wimpern und den sinnlichen Lippen. Sie strahlte eine solche Vollkommenheit aus, dass Kate schon immer der Meinung gewesen war, Hannahs außerordentliche Schönheit entspränge ihrem Innern und sei dessen äußerliche Ausprägung. Sie beobachtete die anmutigen Bewegungen von Hannahs Händen, als sie den Tee zubereitete. »Matt ist immer so hilfsbereit.« Sie seufzte.

Hannah streckte die Arme aus und umfasste Kates Hände, eine Geste der Solidarität. »War es wie immer?«

»Du meinst, ob seine Brüder die ganze Zeit gelacht haben? Diesmal hatte er nur einen dabei. Danny.« Röte stieg in Kates Gesicht auf. »Ja, natürlich. Jedes Mal, wenn ich auch nur in die Nähe der Granites komme, lachen sie alle. Ich habe keine Ahnung, warum. Es ist nicht so wie bei Jonas und dir. Matthew zieht mich nie auf und er stichelt auch nicht. Er ist immer von vollendeter Höflichkeit, aber auf seine Familie scheine ich eine ungeheuer belustigende Wirkung zu haben. Ich strenge mich wirklich an, höflich und ruhig zu bleiben, aber die Brüder lachen, bis ich am liebsten in einen Spiegel schauen würde, um nachzusehen, ob ich Spinat zwischen den Zähnen habe. Matthew sieht sie einfach nur finster an, aber damit lenkt er noch mehr Aufmerksamkeit auf all das dumme Zeug, das ich in seiner Gegenwart zwangsläufig anstelle.« Sie drückte Hannahs Finger, bevor sie ihre Hand losließ. »Ich habe geduscht und mich umgezogen, aber als ich nach Hause kam, war ich von Kopf bis Fuß schmutzig. Der arme Matthew kam gerade von der Arbeit, und als er sich den Staub aus den Kleidern geklopft hat, musste ich natürlich zwei Schritte hinter ihm stehen. Und als er versucht hat, seine Wagentür zu öffnen, habe ich es fertiggebracht, zu dicht davor zu stehen.«

»O Kate, meine Süße, es tut mir ja so leid. Was ist passiert?« Die Qualen ihrer Schwester spiegelten sich in Hannahs Gesicht wider.

Kate zuckte die Achseln. »Ich wäre fast hingefallen, als er die Tür aufgemacht hat, und er musste sich schon wieder bei mir entschuldigen. Der arme Mann ist in meiner Gegenwart ständig gezwungen, sich zu entschuldigen. Ich wette, er wünschte, er bräuchte mich nie mehr zu sehen.«

»Nein, das wünscht er sich nicht«, sagte Hannah mit fester Stimme. »Ich glaube, er war schon immer in dich verknallt.«

Kate seufzte. »Du und ich, wir wissen beide, dass Matthew Granite mich keines zweiten Blickes würdigen würde. Er ist unbändig und stürmisch und er ist der reinste Adrenalin- Junkie. In der Highschool und im College hat er jede erdenkliche Sportart betrieben. Er ist zu den Rangers gegangen. Ich habe recherchiert, was die so alles tun. Sogar ihre Weltanschauung ist eine Spur beängstigend. Sie werden erst dann in die Schlacht geschickt, wenn es hart auf hart geht, aber dann kommen sie an der vordersten Front zum Einsatz. Sie lassen ihre Kameraden niemals im Stich und sie geben mehr als hundert Prozent. Sie haben sich an eine Art Vertrag gebunden, in dem Dinge stehen wie ›Kämpfe selbst dann weiter, wenn du der einzige Überlebende bist‹ und ›Das Wort Kapitulation gehört nicht zum Wortschatz der Rangern‹ Ein köstlicher Schauer überlief sie. »Er ist ein Wilder und er tut äußerst beängstigende Dinge. Jemand wie er sieht sich nach Frauen um, die Berggipfel stürmen und jeder Gefahr ins Gesicht lachen. Kannst du dir mich in dieser Rolle vorstellen?«

»Kate«, sagte Hannah behutsam, »vielleicht ist er inzwischen ruhiger geworden. Er ist in die Ferne gezogen und hat das Seine dazu beigetragen, die Welt zu retten, und jetzt ist er wieder zu Hause und leitet den Familienbetrieb. Es könnte doch sein, dass er sich geändert hat.«

Kate rang sich ein flüchtiges Lächeln ab. »Männer wie Matthew ändern sich nicht, Hannah. Ich habe dir ja erzählt, was passiert ist, als wir uns getroffen haben. Und dann kam auch noch Jonas dazu. Du kennst ja seine Kommentare, die er immer zu den Drake-Schwestern abgeben muss. Er hat angedeutet, jedes Mal, wenn ich in der Nähe sei, würde etwas Grässliches passieren. Damit hat er die Situation noch schlimmer gemacht.« Sie seufzte wieder. »Ich habe versucht, mich so zu geben, als machte es mir nichts aus, aber ich glaube, Matthew hat es gemerkt.«

»Jonas Harrington könnte es nicht schaden, ins Meer zu fallen, wenn gerade ein richtig schön hungriger Hai vorbeischwimmt.« Hannah zerrte den pfeifenden Wasserkessel vom Herd und kippte das Wasser rabiat in die Teekanne. Der Gedanke, dass Jonas Harrington etwas gesagt hatte, womit er Kate aus dem Gleichgewicht brachte, versetzte sie in Wut. Das Wasser brodelte in der kleinen Porzellankanne und warf schäumende Blasen, die lautstark zersprangen. Dampf stieg aus der Kanne auf.

Kate legte ihre Handfläche über die Teekanne und das Wasser beruhigte sich wieder. »Du warst draußen auf der Aussichtsplattform.«

Hannah nickte ohne jede Spur von Reue. »Das Erdbeben hat mir Sorgen gemacht. Ich habe gespürt, dass sich unter der Erde etwas erhebt. Ich kann es nicht erklären, Kate, aber es hat mir Angst eingejagt. Ich habe hier gesessen und mir Joleys Weihnachtslieder angehört, du weißt ja, wie sehr ich Weihnachten liebe, und dann habe ich das Beben gespürt. Gleich darauf hat etwas anderes die Erde erschüttert. Ich habe es als eine Dunkelheit wahrgenommen, die nach oben steigt. Ich wusste, dass du ausgeritten warst, und daher bin ich auf die Plattform gestiegen, um mich zu vergewissern, dass du nicht in Schwierigkeiten steckst.«

»Und du hast den Wind gespürt, der vom Meer kam«, sagte Kate. Sie lehnte ihre Hüfte an die Anrichte. »Ich habe ihn auch gespürt.« Sie zog die Stirn in Falten und trommelte mit den Fingern auf die gekachelte Arbeitsplatte. »Ich habe etwas gerochen, Hannah, etwas Altes und Erbittertes lag im Wind.«

»Das Böse?«, fragte Hannah behutsam.

Kate schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein, nicht direkt. Also, wenn du so fragst«, sagte sie ausweichend, »vielleicht doch. Ich weiß es nicht. Was hast du davon gehalten?«

Hannah lehnte sich an das gekachelte Spülbecken. Ihr Körper war so anmutig, dass diese lässige Bewegung tänzerisch erschien. »Ich weiß es wirklich nicht, Kate, aber das hat nichts Gutes zu bedeuten. Meine Unruhe hat seit dem Erdbeben nicht nachgelassen, und als ich das Mosaik betrachtet habe, war ein schwarzer Schatten unter dem Boden zu sehen. Ich konnte ihn kaum erkennen, weil er sich zu bewegen und nicht an einem Ort zu bleiben schien.«

Kate warf einen Blick auf den Fußboden im Eingang des Hauses. Ihre Großmutter hatte gemeinsam mit ihren sechs Schwestern, Frauen, die Macht und Magie besaßen, dieses Mosaik erschaffen; sieben Schwestern, die ein zeitloses Kunstwerk von unendlicher Schönheit hervorgebracht hatten. Für die meisten Menschen war es nichts weiter als ein einzigartiger Mosaikfußboden, aber die Drake-Schwestern konnten in die sich ständig wandelnden Schatten, die darin verliefen, viele Dinge hineinlesen. »Ich finde es ungemein seltsam, dass keine von uns beiden genau weiß, ob das Phänomen eine Verkörperung des Bösen ist.« Sie zuckte die Achseln und sog die Luft, die von Zimt und Zedern erfüllt war, tief ein. »Ich liebe diese weihnachtlichen Gerüche«, sagte sie lächelnd.

»Du enthältst mir etwas vor«, unterstellte Hannah und aus ihrer Stimme war plötzlich liebevoller Spott herauszuhören. »Es ist noch etwas anderes vorgefallen, stimmt's?«

»Als das Erdbeben begonnen hat, hat Matthew seinen Arm um mich gelegt, um mir Halt zu geben, und so haben wir auch noch dagestanden, als längst alles vorbei war.« Sie grinste Hannah an. »Er ist ja so stark. Du machst dir keine Vorstellung davon. Der Mann besteht nur aus Muskeln. Es ist ein Wunder, dass ich nicht zu einer Pfütze vor seinen Füßen zerflossen bin! Aber es ist mir gelungen, heiter und gelassen zu wirken.«

Hannah tat so, als würde sie ohnmächtig. »Ich wünschte, dieser Anblick wäre mir vergönnt gewesen. Matthew ist ein ganz scharfer Typ, auch wenn er ein Neandertaler ist. Ich muss direkt danach auf die Aussichtsplattform gekommen sein, gerade noch rechtzeitig, um die Ankunft des schleimigen Kröterichs in seinem kleinen Sheriffmobil nicht zu verpassen.« Sie lächelte süffisant. »Ein Jammer, dass Wind aufgekommen ist und sein albernes kleines Hütchen aufs Meer hinausgeweht hat.«

»Schäm dich, Hannah«, schalt Kate ihre Schwester halbherzig aus. »Jonas meint es gut. Er ist es nun mal gewohnt, dass alle genau das tun, was er sagt, und immer, wenn es in Sea Haven Ärger gibt, sieht es so aus, als steckten wir mittendrin. Mit der Zeit macht es dir anscheinend Spaß, ihn zu quälen.«

»Weshalb sollte es mir keinen Spaß machen? Er hat mich jahrelang gequält.«

Hannahs Stimme klang derart verletzt, dass Kate ihrer Schwester einen Arm um die Taille schlang, um sie zu trösten. Jonas kannte sie alle schon seit ihrer Kindheit und er hatte Hannah nie verstanden. Sie war ein außergewöhnlich schönes und hochintelligentes Band gewesen, aber außerhalb der Mauern ihres eigenen Hauses war sie so qualvoll schüchtern, dass die Schwestern Tag für Tag ihre magischen Kräfte einsetzen mussten, damit sie es überhaupt in die Schule schaffte. Jonas war der Überzeugung gewesen, sie sei hochmütig, doch in Wirklichkeit war es ihr so gut wie nie gelungen, in der Öffentlichkeit auch nur ein Wort von sich zu geben. »Ich finde, alles in allem war es ein guter Tag. Du hast es geschafft, Jonas um einen weiteren Hut zu bringen, und ich habe es hingekriegt, dem schärfsten Mann von Sea Haven nahe zu kommen und Körperkontakt mit ihm aufzunehmen.« Kate umarmte Hannah, bevor sie sich eine Tasse Tee einschenkte und damit ins Wohnzimmer ging.

Hannah folgte ihr. »Hast du dein Manuskript abgeschickt?«

Kate nickte. »Mord und Zerstörung halten einen kleinen Küstenort in Atem. Ich habe vergessen, den Teewärmer wieder über die Kanne zu stülpen. Machst du das für mich?«

Hannah warf einen Blick in die Küche und hob die Arme.

Als Kate wieder hinsah, saß die Teehaube auf der Kanne. »Danke, Hannah. Ich muss sagen, dass Jonas bei meinen Recherchen von unschätzbarem Wert war.«

»Das weiß ich selbst, aber bilde dir bloß nicht ein, er täte das, um nett zu sein.« Hannah’s große blaue Augen funkelten vor Lachen. »Er hat nur versucht, sich bei dir einzuschmeicheln, damit du mich davon abbringst, seinen heiß geliebten Hüten üble Streiche zu spielen.«

Beide drehten sich abrupt um, als die Haustür aufgerissen wurde. Abigail Drake kam hereingestürmt, eine kleine Frau mit dunklen Augen und einer üppigen rotgoldenen Mähne, die ihr in einem dicken Pferdeschwanz auf den Rücken fiel.

Ihr Gesicht war gerötet und ihre Augen glänzten übermäßig. Sowie sie ihre Schwestern sah, brach sie in Tränen aus.

»Abbey!« Hannah stellte ihre Teetasse auf dem blank polierten Couchtisch ab. »Was ist los? Du weinst doch sonst nie.«

»Ich habe mich vor dem gesamten Ausschuss für den Weihnachtsumzug in Grund und Boden blamiert«, sagte Abigail kläglich. Sie warf sich auf den prall gepolsterten Sessel und schlug sich die Hände vors Gesicht. »Ich kann keinem von ihnen jemals wieder in die Augen schauen.«

Hannah und Kate eilten an ihre Seite und beide schlangen ihre Arme um sie. »Weine nicht, Abbey. Was ist passiert? Vielleicht können wir es wieder in Ordnung bringen. So schlimm kann es doch gar nicht sein.«

»Doch, es war ganz schlimm«, murmelte Abigail durch ihre Finger. »Ich habe versehentlich die Stimme benutzt. Ich habe nicht aufgepasst. Nach dem Erdbeben war ich total abgelenkt, weil ich etwas unter meinen Füßen gespürt habe, etwas, was sich direkt unter der Oberfläche regt und einen Weg nach oben sucht. Ich konnte es ganz deutlich spüren.« Abigail hatte das Gefühl, von allen Gaben, deren die Schwestern teilhaftig waren, die schlimmste erwischt zu haben. Ihre Stimme konnte dafür benutzt werden, Menschen in ihrer Nähe die Wahrheit zu entlocken. Als Kind, bevor sie gelernt hatte, den Tonfall und den Wortlaut ihrer Sätze mit Bedacht zu wählen, war sie bei ihren Klassenkameraden sehr unbeliebt gewesen. Oft plärrten sie in ihrer Gegenwart die Wahrheit über einen mutwilligen Streich heraus, wenn ihre Eltern oder ein Lehrer anwesend waren. Abigail zog ihre Hände vom Gesicht und starrte sie mit ihren traurigen Augen an. »Aber das entschuldigt gar nichts. Ich bin kein Teenager mehr. Ich weiß, dass ich ständig auf der Hut sein muss.«

Hannah und Kate tauschten einen langen furchtsamen Blick miteinander aus. »Wir haben den Schatten auch gefühlt,  Abbey. Er hat uns beide enorm beunruhigt. Was ist auf dem Treffen vorgefallen?«

Abbey zog ihre Beine dicht an ihren Körper. »Wir haben alle über den Weihnachtsumzug diskutiert.« Sie rieb ihr Kinn an ihren Knien. »Ich habe den Spalt in der Erde gefühlt, eine Schwärze, die aufgestiegen ist, und ehe ich wusste, wie mir geschah, habe ich nach der Wahrheit gefragt.« Sie schlug sich die Hände über die Ohren. »Und die habe ich dann auch zu hören bekommen. Aber nicht nur ich, sondern alle. Bruce Harper hat eine Affäre mit Mason Fredricksons Frau. Sie waren alle anwesend. Bruce und Mason haben sich einen furchtbaren Faustkampf geliefert und Letty Harper ist in Tränen ausgebrochen und rausgerannt. Sie ist im sechsten Monat schwanger. Sylvia Fredrickson hat mich geohrfeigt und ist dann auch gegangen und ich stand da und alle haben mich angestarrt.« Sie brach von neuem in Tränen aus.

Kate zog ihre Stirn in Falten, während sie die Schultern ihrer Schwester rieb. Sie spürte genau, wie sehr Abigail litt. »Jetzt ist alles wieder gut, Schätzchen. Du bist zu Hause und hier kann dir nichts passieren.« Augenblicklich wurde der Raum von einer wohltuenden Stille und einem Gefühl von Frieden erfüllt. Die Dochte der unangezündeten Kerzen auf dem Kaminsims hüllten sich in leuchtend orangerote Flammen. Joleys Stimme strömte aufmunternd und melodisch in das Zimmer und brachte ein Gefühl von Behaglichkeit und fröhlicher Weihnachtsstimmung mit sich. Kate schmiegte sich eng an ihre Schwester. »Abigail, deine Gabe ist ein grandioses Geschenk und du hast sie immer nur zu guten Zwecken eingesetzt. Das war eine besondere Situation vorhin, die keine von uns hätte vorhersehen können. Lass es dabei bewenden. Atme tief durch und lass es dabei bewenden.«

Abbey brachte ein schwaches Lächeln zustande und ihr Schluchzen ließ nach, als sie den Klang der Stimme ihrer Schwester hörte. Kate die Friedensstifterin. Die meisten Leute glaubten, sie verhinderte Kämpfe und Streitigkeiten und löste Probleme, aber in Wahrheit ging von ihr ein Zauber aus, eine heitere Ruhe und ein innerer Friede, der sich einzig und allein dadurch, wie sie sprach, auf andere übertrug. »Ich wünschte, ich besäße deine Gabe, Kate«, sagte Abbey. Sie presste ihre Hand auf ihre Wange. »Es hat mir nichts ausgemacht, Sylvia vor allen bloßzustellen - sie bildet sich ein, sie könnte jeden Mann bekommen –, aber die arme kleine Letty ist schwanger und sie liebt ihren blöden untreuen Mann so sehr. Es war herzzerreißend. Und dann auch noch an Weihnachten. Wie konnte ich bloß so unachtsam sein? Ich schäme mich so sehr.«

»Was genau hast du gesagt, Abbey?«, fragte Kate.

Abbey wirkte verwirrt. »Alle hatten die verschiedensten Ideen für die Aufführung des Stücks eingebracht, das wir jedes Jahr spielen. Und dann hat jemand gefragt, ob den Leuten das alte Drehbuch wirklich gefiele, ob wir also an der Tradition festhalten sollen oder das Stück modernisieren sollten. Ich glaube, ich habe gesagt, jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt, um die Wahrheit zu sagen, falls jemand größere Veränderungen vornehmen möchte. Ich meinte, am Drehbuch, nicht im Leben der Anwesenden.« Sie rieb sich die Schläfen. »Ein solcher Schnitzer ist mir nicht mehr unterlaufen, seit ich ein Teenager war. Ich achte so sorgsam darauf, das Wort Wahrheit zu vermeiden.« Sie fuhr sich ein zweites Mal mit der Hand über das Gesicht, als versuchte sie, den brennenden Schmerz auszulöschen, den Sylvias Ohrfeige hinterlassen hatte. »Ihr wisst ja, dass jeder in meiner unmittelbaren Umgebung eine Wahrheit von sich gibt, wenn ich das Wort benutze.«

»Mir macht vielmehr Sorgen, dass wir alle dasselbe Phänomen wahrgenommen haben«, sagte Kate. »Hannah hat einen dunklen Schatten im Mosaik gesehen. Du hast etwas gesagt, was du normalerweise nie gesagt hättest, und dicht vor meinen Füßen hat sich ein Spalt aufgetan und sich bis auf die Böschung hinauf ausgebreitet.«

Hannah schnappte nach Luft. »Das hast du mir noch gar nicht erzählt, Kate. Es könnte ein Angriff auf dich gewesen sein. Du bist von uns allen die ...« Sie ließ ihren Satz abreißen und sah Abbey an.

Kate reckte ihr Kinn in die Luft. »Die was bin ich?«

Hannah zuckte die Achseln. »Du bist die Netteste von uns allen. Du hast keinen Funken Gemeinheit im Leib. Nein, eben nicht, Katie. Tut mir leid, ich weiß, dass du es hasst, wenn wir das sagen, aber du weißt noch nicht einmal, wie es ist, jemanden nicht zu mögen. Du bist schlicht und einfach ...«

»Sag jetzt bloß nicht vollkommen«, warf Kate warnend ein. »Ich bin nicht vollkommen. Und ich glaube, genau deshalb lachen Matthews Brüder mich immer aus. Sie glauben, ich wollte vollkommen sein und bekäme es nicht hin.«

Hannah und Abbey tauschten einen langen besorgten Blick miteinander aus. »Ich finde, wir sollten die anderen rufen«, sagte Hannah. »Sarah wird wissen wollen, was hier los ist. Sie muss das Erdbeben auch wahrgenommen haben. Wir können sie fragen, ob ihr auch etwas Seltsames zugestoßen ist. Und wir sollten Joley, Libby und Elle rufen. Irgendetwas stimmt hier nicht, Kate, das kann ich deutlich fühlen. Es ist, als hätte das Erdbeben eine heimtückische Kraft entfesselt. Ich fürchte, sie könnte gegen dich gerichtet sein.«

Kate trank einen großen Schluck Tee. Der Geschmack war so beruhigend wie der Duft, der ihr in die Nase stieg. »Tu das ruhig, es kann nicht schaden zu sehen, was die anderen dazu zu sagen haben. Ich werde mir jedenfalls keine Sorgen machen. Ich habe es nicht als direkte Bedrohung empfunden. Aber Sarah rufe ich nicht. Ich möchte sie und Damon jetzt nicht stören. Die Glut ihrer Leidenschaft ist sogar durch die Telefonleitung deutlich zu spüren.«

»Ich kann auf die Aussichtsplattform gehen und ihr ein Signal geben«, sagte Hannah anzüglich. »Ihr Schlafzimmer weist in unsere Richtung und aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen öffnen sich ausgerechnet in diesem einen Zimmer ständig die Vorhänge.«

»Hannah!« Kate bemühte sich, nicht zu lachen. »Du bist unmöglich.«

Im Gegensatz zu ihr lachte Hannah. »Und du bist perfekt, ob du es zugeben willst oder nicht. Zumindest in meinen Augen.«

»In meinen auch«, sagte Abigail.

Kate lächelte die beiden an. »So perfekt bin ich nun auch wieder nicht. Ich würde Sylvia Fredrickson gern mal meine Meinung sagen. Sie hatte kein Recht, dich zu ohrfeigen, Abbey. Sie war schon in der Highschool eklig.«

»Um Sylvia kümmere ich mich«, sagte Hannah. »Mach dir keine Sorgen, Abbey. Sie wird sich noch lange daran erinnern, was für eine dumme Idee es war, dich zu schlagen.«

»Hannah!« Kate und Abbey protestierten im Chor.

Hannah brach in lautes Gelächter aus. »Ich habe verstanden, Kate. Du wirst mit Sylvia reden, aber du willst nicht, dass ich sie verhexe.«

Kate lächelte verschmitzt. »Ich hätte wissen müssen, dass du mich nur ködern wolltest.«

»Wer sagt, dass es nicht mein Ernst war? Sylvia bringt das gesamte weibliche Geschlecht in Verruf.«

Kate schüttelte den Kopf. »Hannah Drake, du entwickelst dich zusehends zu einer blutrünstigen kleinen Hexe. Ich glaube, Jonas hat einen schlechten Einfluss auf dich.« Sie berührte zart Abbeys Wange. »Selbst in dem Fall dürfen wir unsere Gaben für nichts anderes als gute Zwecke nutzen.«

Hannah schnitt eine Grimasse. »Jonas tut es gut, wenn er hinter seinem Hut herlaufen muss. Das bewahrt ihn davor, noch arroganter und herrischer zu werden. Und wer weiß, was für eine großartige Lektion Sylvia Fredrickson lernen würde, wenn ich sie ein klein wenig piesacken würde.« Bevor eine ihrer beiden Schwestern etwas dazu sagen konnte, lachte sie leise. »Ich werde ihr nichts Grässliches antun. Ich sehe nur immer wieder liebend gern diesen Ausdruck auf euren Gesichtern, der zu sagen scheint »Hannah ist mal wieder nicht zu halten<.«

Kate versetzte Abbey einen Rippenstoß und ignorierte Hannahs schelmisches Lächeln. »Rate mal, was ich morgen tun werde? Matthew Granite hat sich bereit erklärt, sich morgen Nachmittag gemeinsam mit mir die Mühle anzusehen. Ich hoffe, keiner seiner Brüder wird in der Nähe sein, um mich auszulachen, und vielleicht fällt ihm endlich auf, dass ich eine erwachsene Frau bin und kein tollpatschiger Teenager. Man könnte meinen, der Umstand, dass ich rund um die Welt gereist bin und als Autorin Erfolg habe, würde ihn beeindrucken, aber er sieht mich noch genauso an wie zu den Zeiten, als ich in der Highschool war.«

Hannah und Abbey tauschten einen kurzen beunruhigten Blick miteinander aus. »Kate, du wirst den Nachmittag mit ihm verbringen? Bist du ganz sicher, dass du das wirklich tun willst?«, fragte Abigail.

Kate nickte. »Ich bin gern mit ihm zusammen. Fragt mich nicht, warum, aber es ist nun mal so.«

»Kate, du warst schon ewig nicht mehr zu Hause. Matthew haftet ein gewisser Ruf an«, sagte Abigail zögernd. »Im Umgang mit dir war er immer locker und unbefangen und er ist sehr charmant, aber er ist...« Sie ließ ihren Satz abreißen und sah Hannah Hilfe suchend an.

»Was denn? Ein Frauenheld? Ich gehe davon aus, dass ein Mann in seinem Alter Erfahrungen mit Frauen gesammelt hat.« Kate lief durchs Wohnzimmer, um den ersten der sieben Strümpfe zu berühren, die in einer Reihe am Kaminsims hingen. Diese Geste erlaubte es ihr, ihren Gesichtsausdruck vor ihren Schwestern zu verbergen. »Ich weiß, dass er Beziehungen gehabt hat.«

»Das ist es ja gerade, Kate. Er hat keine Beziehungen. Bestenfalls One-Night-Stands. Die Frauen finden ihn charmant und geheimnisvoll, aber er empfindet sie wohl mehr als Ärgernis. Im Ernst, Kate, verliebe dich bloß nicht wirklich in ihn. Er macht zwar rein äußerlich gesehen einen guten Eindruck, aber er hat die Haltung eines Höhlenmenschen. Er war so lange Zeit beim Militär und hat all diese geheimen Aufträge für die Sondereinsatztruppen ausgeführt und jetzt erwartet er, dass jeder seine Befehle befolgt. Wahrscheinlich beeindrucken ihn deine Weltreisen deshalb nicht. Fall bloß nicht auf ihn rein«, flehte Hannah. »Es wäre mir unerträglich, wenn er dich verletzen würde, Kate.«

»Was macht dich auf einmal so sicher, dass er nicht auf mich reinfallen würde? Vor ein paar Minuten hast du noch gesagt, er könnte etwas für mich übrighaben.« Kate war bemüht, ihre Stimme in Schach zu halten und einen neutralen Tonfall anzuschlagen, obwohl sie innerlich einen ganz eigentümlichen Schmerz verspürte. »Diese Warnung ist wirklich nicht nötig. Männer wie Matthew sehen Frauen wie mich nicht einmal an.« Sie zuckte die Achseln. »Mir macht das nichts aus. Ich brauche die Einsamkeit, ich brauchte schon immer meine Ruhe. Und außerdem habe ich nicht gerade viel Zeit übrig, die ich in eine Beziehung investieren könnte.«

»Was soll das heißen – Matthew würde eine Frau wie dich nicht einmal ansehen?« Abbey war entrüstet. »Wovon redest du überhaupt, Kate?«

Kate trank wieder einen Schluck Tee und lächelte ihre Schwestern über den Rand ihrer Teetasse an. »Macht euch keine Sorgen, ich schwelge nicht in Selbstmitleid. Ich weiß, dass ich anders bin. Ich bin schon so geboren. Ihr alle fallt aus dem Rahmen, durch euer auffälliges Aussehen und eure starke Persönlichkeit. Sogar du, Hannah, nimmst das Leben mit Begeisterung an, obwohl du dich mit dieser Schüchternheit herumquälen musst. Ihr alle lebt in vollen Zügen. Ihr lasst euch durch eure Schwächen oder Unzulänglichkeiten nicht beeinträchtigen. Ich dagegen bin eine außenstehende Beobachterin. Ich lese über das Leben. Ich recherchiere über das Leben. Ich finde in jedem Raum ein Eckchen, mit dem ich verschmelzen kann, um unsichtbar zu werden. Das ist eine Kunst und ich beherrsche sie blendend.«

»Du reist um die ganze Welt, Kate«, hob Hannah hervor.

»Ja, und mein Agent und mein Verleger ebnen mir den Weg. Ich brauche mich um nichts zu kümmern, weil ohnehin alles für mich erledigt wird. Matthew ist so wie ihr alle. Er stürzt sich ins volle Leben und kostet jeden Moment bis zur Neige aus. Er ist ein geborener Held, der zur Rettung herbeieilt und die Verwundeten auf seinem Rücken fortträgt. Er braucht jemanden, der bereit ist, so zu handeln wie er. Ich bin die geborene Beobachterin. Vielleicht ist mir deshalb die Fähigkeit verliehen worden, zeitweilig in die Schatten zu blicken. Ein Teil von mir weilt bereits dort.«

Hannahs blaue Augen füllten sich mit Tränen. »Sag das nicht, Kate. Sag das niemals.« Sie schlang ihre Arme um Kate und drückte sie eng an sich, ohne sich daran zu stören, dass eine kleine Menge Tee auf sie schwappte. »Ich wusste nicht, dass dir so zumute ist. Wie kann es sein, dass ich nichts davon geahnt habe?«

Kate drückte sie fest an sich. »Schätzchen, rege dich meinetwegen bloß nicht auf. Du verstehst das nicht. Es macht mir nichts aus. Meine Welt sind die Bücher. So war es schon immer. Ich liebe Worte. Ich liebe es, in meiner Phantasie zu leben. Ich will keine Berge besteigen. Ich befasse mich liebend gern damit, wie man das tut. Ich unterhalte mich liebend gern mit Menschen, die es tun, aber ich will die Erfahrung nicht selbst machen, die Realität des Bergsteigens nicht erleben. Meine Phantasie liefert mir ein wunderbares Abenteuer ohne die Gefahren und die Unbequemlichkeiten.«

»Katie«, protestierte Abbey.

»Es ist doch wahr. Ich habe mich schon immer zu Matthew Granite hingezogen gefühlt, aber ich bin viel zu praktisch veranlagt, um mir einzureden, mit uns könnte es jemals klappen, denn das wäre ein Fehler. Er ist nicht zu bremsen. Ich erinnere mich noch, dass er sowohl in der Highschool als auch im College beim Football immer im dichtesten Gedränge mitgemischt hat. Er hat so viele verrückte Dinge getan, begonnen damit, dass er zu den Rangers gegangen ist, bis hin zum Skydiving aus lauter Jux und Tollerei.« Sie erschauerte. »Ich bin noch nicht mal fürs Tauchen zu haben. Und er betreibt zur Entspannung Wildwasserrafting und Steilwandklettern. Ich lese stattdessen lieber ein gutes Buch. Wir passen überhaupt nicht zusammen, aber ich darf ja wohl trotzdem noch der Meinung sein, dass er ein scharfer Typ ist.«

»Bist du ganz sicher, dass du Zeit mit ihm verbringen möchtest?«, fragte Abbey.

Kate zuckte die Achseln. »Im Moment möchte ich etwas ganz anderes«, sagte sie. »Ich möchte einen Blick auf das Mosaik werfen, um zu sehen, ob ich die Schatten in der Erde so deutlich erkennen kann wie Hannah.«

»Vielleicht können wir zu dritt dahinterkommen, was hier vorgeht«, stimmte Hannah ihr zu. Sie folgte Kate zum Eingang und warf Abigail über ihre Schulter einen Blick zu. »Singt Joley nicht wunderschön? Sie hat uns ihre Weihnachts-CD geschickt. Sie hat gesagt, vielleicht schafft sie es, über Weihnachten nach Hause zu kommen.«

»Das hoffe ich sehr«, sagte Abbey. »Hat sich Elle oder Libby gemeldet?«

»Libby ist in Südamerika«, sagte Hannah.

»Ich dachte, du hättest gesagt, sie sei im Kongo«, fiel Kate ihr ins Wort.

Hannah lachte. »Sie war im Kongo, aber von dort aus ist sie nach Südamerika beordert worden. Sie hat direkt nach dem Erdbeben angerufen. Bei einem kleinen Stamm im Regenwald ist eine rätselhafte Krankheit ausgebrochen und man hat Libby gebeten, augenblicklich hinzufliegen und zu helfen. Und natürlich hat sie genau das getan. Sie hat gesagt, es würde schwierig werden, aber sie käme, ganz gleich, was passiert, über Weihnachten nach Hause. Ich glaube, sie braucht unsere Nähe. Sie klang müde. Wirklich sehr müde. Ich habe ihr gesagt, wir würden uns zusammentun und sehen, ob wir ihr Energiereserven senden können, aber sie hat das Angebot abgelehnt. Sie hat zu mir gesagt, wir sollten unsere Kräfte schonen und äußerst vorsichtig sein«, berichtete Hannah.

Abbey und Kate blieben abrupt stehen. »Bist du ganz sicher, dass Libby uns nicht braucht, Hannah?«, fragte Kate. »Du weißt ja, welchen Gefahren sie sich aussetzt. Sie hilft Menschen unter den denkbar ungünstigsten Umständen und das raubt ihr jede Energie. Wenn sie dann zusätzlich auch noch diese Entfernungen zurücklegt und wenig schläft, ist das auch nicht gerade erholsam.«

»Sie hat nein gesagt«, wiederholte Hannah. »Ich habe die Ermattung aus ihrer Stimme herausgehört. Sie hat es offensichtlich bitter nötig, nach Hause zu kommen, Energien aufzutanken und sich auszuruhen, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ihr Zustand kritisch ist.« Sie kniete sich vor dem Mosaik, in das ihre Großmutter gemeinsam mit ihren Schwestern so viel harte Arbeit investiert hatte, auf den Boden.

Erleichterung durchflutete Kate. Libby verausgabte sich immer wieder bis an ihre Grenzen, was dramatische gesundheitliche Folgen für sie hatte. Libby war zu klein, zu schlank und zu zart, um sich derart für andere zu schinden. Sie arbeitete für die staatliche Behörde »Center for Disease Control« und reiste rund um die Welt. »Wir werden sie im Auge behalten müssen«, sagte Kate leise und versonnen.

Die Fähigkeit, ungeachtet der räumlichen Entfernung miteinander in Kontakt treten zu können, zählte zu den Gaben der Schwestern, für die sie besonders dankbar waren. Sie konnten einander »sehen« und Energien von einer zur anderen senden, wenn es notwendig war. Kate kniete sich neben Hannah in die Eingangshalle.

Kate verspürte immer eine gewisse Ehrfurcht, wenn sie das Kunstwerk auf dem Boden betrachtete. Das Mosaik erschien ihr stets energiegeladen. Jeder, der es ansah, kam sich vor, als fiele er in eine andere Welt. Das tiefe Blau des Meeres war in Wirklichkeit der Ozean des Himmels. Sterne explodierten und erwachten flackernd zum Leben. Der Mond war eine schimmernde silberne Kugel. Kate beugte sich noch weiter vor, um die Grün-, Braun- und Grautöne, die Mutter Erde bildeten, aus der Nähe zu studieren.

Nur Joleys Stimme strömte in den Raum, und als die letzten Töne verklangen, blieb vollständige Stille zurück. Die drei Schwestern fassten einander an den Händen. Funken sprangen in der elektrisch aufgeladenen Luft von einer zur anderen über. In dem schwach erleuchteten Raum nahm sich die Energie wie ein gezackter Blitz aus, der zwischen den drei Frauen umhertanzte. Kraft erfüllte den Raum, genug Energie, um die Vorhänge an den Fenstern zu bewegen und sie flattern und wehen zu lassen.

Kate hielt ihren Blick starr auf die dunkleren Erdtöne gerichtet. Etwas rührte sich in den tieferen Felsen dicht am Rande des Mosaiks. Es bewegte sich langsam voran, ein geschwärzter Schatten, der von einem dunklen Bereich zum nächsten glitt und listig und tückisch wirkte. Er verlagerte sich an den Rändern immer weiter zur Oberfläche hin, als versuchte er, sie zu durchbrechen. Kate atmete langsam aus und füllte ihre Lungen dann vollständig mit Luft, bevor sie sich von ihrem Körper löste. Das war ihre Art, sich in die Schattenwelt zu begeben, die für die meisten menschlichen Augen unsichtbar war.

Sie nahm die Böswilligkeit unmittelbar wahr, eine krankhafte Heimtücke, verschlagen und wild entschlossen; ein Wesen, dem ungeheure Wut den letzten Schliff verliehen hatte und dessen Antrieb Rachsucht war. Der Tumult war überwältigend, denn es siedete und brodelte vor Glut und Zorn. Das Wesen kroch noch näher an sie heran und das Bewusstsein ihrer Gegenwart erfüllte es mit einer Art gehässiger Schadenfreude. Sie hielt vollkommen still und versuchte, die dunkle Macht in den tieferen Schatten zu erkennen, doch diese Kraft verschmolz allzu geschickt mit ihrer Umgebung.

»Kate!« Hannah schüttelte sie kräftig, packte sie an den Schultern und rüttelte sie, bis ihr Kopf in den Nacken zurückfiel.

Abbey zerrte Kate von dem Mosaik fort und in ihren eigenen Körper zurück. Lange Zeit herrschte Schweigen, während sie sich schwer atmend und kurz vor den Tränen aneinanderklammerten. Das schrillte Läuten des Telefons erschreckte sie.

»Sarah«, sagten sie gleichzeitig und brachen in erleichtertes Gelächter aus.

Abbey sprang auf, um ans Telefon zu gehen. »Ich verpetze dich bei Sarah«, warnte sie Kate, »und dann bekommst du großen Ärger!«

Kate umklammerte Hannahs Hand und versuchte, Abbeys Drohung mit einem Lächeln abzutun. »Hast du es gefühlt, Hannah?«, flüsterte sie. »Hast du gefühlt, dass dieses Geschöpf es auf mich abgesehen hatte?«

»Du darfst nicht noch einmal in diese Welt gehen, Kate. Nicht, solange dieses Ding dort ist. Ich konnte nicht deuten, was es ist, aber du musst dich von ihm fernhalten.« Hannah zog Kate noch enger an sich. »Ich weiß, was es heißt, sich ständig zu fürchten, Katie. Mir sind Menschenmengen unerträglich, weil mich die Energie so vieler Leute auslaugt. Ihre Gefühle bestürmen mich, bis ein Punkt erreicht ist, an dem ich nicht mehr denken und nicht mehr atmen kann. Ihr alle beschützt mich und ihr habt es schon immer getan. Ich wünschte, wir hätten für dich dasselbe getan.«

Kate lächelte und beugte sich vor, um Hannah einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Ich habe meine Grenzen schon vor langer Zeit akzeptiert, Hannah, und ich habe die Wahl meiner Lebensführung nie bereut. Über die von mir gewählte Umgebung kann ich selbst bestimmen und für mich hat sich das bewährt. Ich hatte nicht das Bedürfnis, all die Dinge zu tun, die du mit deinem Leben anstellen wolltest. Meine Welt ist sorgsam konstruiert und hat hohe Mauern, die mich schützen. Du bietest viel größere Angriffsflächen. Ich werde vorsichtig sein, Hannah. Ich neige nicht dazu, Risiken einzugehen. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, dass ich versuchen könnte, die Antworten ohne euch alle zu finden.«

»Katie!«, rief Abbey. »Sarah möchte dich sprechen.« Sie hielt ihr den Hörer hin.

Kate umarmte Hannah noch einmal. »Es wird alles wieder gut werden, das verspreche ich dir, Schätzchen. Es ist kurz vor Weihnachten. Fast alle werden nach Hause kommen und wir werden unglaublich viel Spaß miteinander haben. So ist es doch immer, wenn wir zusammen sind.«

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